Debatte Thierse fordert neuen Nationalfeiertag
Leipzig - "Nicht der 3., sondern der 9. Oktober wäre ein geeignetes Datum", sagte Thierse am Montagabend in Leipzig bei einer Podiumsdiskussion über die friedliche Revolution von 1989. Mit dem 9. Oktober hätte vor allem auch der Beitrag der Ostdeutschen zur deutschen Geschichte gewürdigt werden können, erläuterte der SPD-Politiker.
Am 9. Oktober 1989 hatten rund 70.000 Menschen in Leipzig friedlich gegen das DDR-Regime protestiert. Ein angesichts der damals in Stellung gebrachten bewaffneten Kräfte von Polizei, Armee und Betriebskampfgruppen von vielen erwartetes Blutbad blieb aus. Nach Thierses Erinnerung hat die "entschlossene Friedfertigkeit" der Leipziger Montagsdemonstranten damals die SED-Führung derartig irritiert, dass sie nicht mehr wusste, was sie tun sollte.
Auch der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, sprach sich für den 9. Oktober als geeigneten Tag aus, an dem an die Vorgänge im Wendeherbst und die sich daraus ergebende deutsche Einheit erinnert werden könnte. "An jenem Tag saß die gesamte DDR in der Nikolaikirche", fand Führer ein überzeugendes Bild. Der 9. Oktober sei zum Tag des Volkes und der Gewaltlosigkeit geworden, unterstrich Führer. Weder in Ost noch in West hätten an jenem Tag Politiker ihre Stimme erhoben. Zur Erheiterung des Publikums im ehemaligen Kinosaal der Stasi-Bezirksverwaltung Leipzig fügte der Pfarrer hinzu: "Stellen Sie sich vor, Politiker sollen einen Tag feiern und Reden auf ihn halten, an dem sie gar nicht da waren".
Der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz kritisierte ebenfalls, dass der 3. Oktober als "Tag der Deutschen Einheit" begangen wird. "Der Tag wird als Feiertag, als Nationalfeiertag von den Menschen doch gar nicht wahrgenommen", sagte Schulz. Den 9. Oktober jedoch hielt er ebenfalls nicht für geeignet. "Dieser Tag hat sicher für Leipzig eine besondere Bedeutung, in Rostock, Berlin oder Schwerin und anderen Städten der DDR gibt es jeweils andere Tage", erläuterte er. Schulz sprach sich für den Tag der Maueröffnung, den 9. November, als Nationalfeiertag aus. "Als deutscher Schicksals- und Gedenktag wäre er es wert, gefeiert zu werden", sagte der Politiker.
Unterstützung erhielt Schulz von Paul Oestreich. Der in England lebende Geistliche meinte ebenfalls, dass man den 9. November durchaus als Nationalfeiertag begehen könnte. "An dem Tag wäre es möglich, zum Beispiel in den Schulen die gesamte deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen", so Oestreich. Auch wenn sich die Reichspogromnacht, in der die "schlimmste Verfolgung der Juden" in der Geschichte begonnen habe, ebenfalls am 9. November ereignet hätte, könne man dies zum Anlass des Gedenkens und Erinnerns nehmen.
Auch wenn es von den Veranstaltern eigentlich nicht vorgesehen war, blieb die Diskussion um die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV nicht außen vor. Dabei wurde auch die Frage gestellt, ob die Kirche sich instrumentalisieren lasse. Dies wies Führer weit von sich: "Straße und Altar gehören zusammen", rechtfertigte er die Tatsache, dass sowohl in der DDR als auch heute Menschen zunächst zu den Friedensgebeten in seine Kirche kämen, um anschließend auf der Straße zu protestieren. Thierse meinte, dass die Friedfertigkeit der Montagsdemonstranten des Wendeherbstes den Kirchen geschuldet gewesen sei, in denen die Menschen Zuflucht gefunden hätten. "Dies wird auch heute wieder gebraucht", sagte der Bundestagspräsident.
Gleichzeitig drückte Thierse seine Furcht vor einer Radikalisierung der Proteste gegen Hartz IV aus. Bei den Montagsdemonstrationen würden möglicherweise unrealistische Forderungen gestellt, die bei den Menschen zu Enttäuschung führten, wenn sie nicht erfüllt würden. Enttäuschung aber könne zu Wut und Hass werden. "Kirchen tragen dazu bei, dass es keine solche Radikalisierung gibt, heute wie gestern", sagte Thierse.
Schulz machte deutlich, dass es Wut und Hass auch 1989 in der DDR gegeben habe. Die Kirchen hätten es jedoch geschafft, dass die Menschen keine Steine, sondern Kerzen in die Hände genommen hätten. "Das war damals ein demokratischer Aufbruch, der noch nicht vollendet ist", meinte der Grünen-Politiker. Er erinnerte daran, dass es im Gründungsaufruf des Neuen Forums 1989 geheißen hatte, dass "die Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten gestört ist." Dies sei auch heute offenbar wieder so, sagte Schulz.
Jörg Aberger, AP