Amoklauf in der Schule Der verhinderte Massenmord von Emsdetten
Emsdetten - Die Polizei hält den Abschiedsbrief für authentisch. "Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin", heißt es in dem Text, in dem die Geschwister-Scholl-Schule mit der Abkürzung GSS genannt wird. "Ich verabscheue Menschen", steht auf seiner inzwischen abgeschalteten Internetseite. Dort posiert der junge Mann auf Fotos mit Waffen, darunter auch eine Maschinenpistole. Der Brief schließt mit den Worten: "Ich bin weg..."
An der Leiche des Täters im zweiten Obergeschoss der Schule befinden sich laut Polizei Sprengsätze, die von Spezialisten entschärft werden müssen. Die Polizisten kämen "wegen des Sprengstoffs derzeit nicht an die Leiche heran", sagte ein Sprecher. Das Gesicht der Leiche ist durch den Selbstmord entstellt. Ob er sich erschossen oder durch einen Sprengsatz getötet hat, ist unklar.
Vier Rohrbomben, die der junge Mann im Gebäude angebracht hatte, sind nach Informationen von SPIEGEL ONLINE bereits entschärft. Die Polizei sucht jedoch nach weiteren Sprengsätzen - auch an einem Fahrzeug vor der Schule, das dem mutmaßlichen Täter gehörte. Wie lange die Entschärfung noch dauert, ist ungewiss. Auch in der Garage des Elternhauses wurden Sprengsätze gefunden, die nun unschädlich gemacht werden müssen.
Neben dem Täter lagen zwei Gewehre mit abgesägten Läufen, insgesamt hatte er vier Waffen. Am Hosenbein hatte der junge Mann nach Angaben der Polizei ein Messer befestigt. Er trug Handschuhe, das Gesicht war bei dem Überfall mit einer Sturmhaube vermummt. Drei Rohrbomben trug er am Körper, fünf weitere davon in einem Rucksack. Eine davon wurde in der Schule gezündet. Außerdem wurde ein Molotow-Cocktail auf den Schulhof geworfen.
Der junge Mann habe auf der Flucht vor der Polizei im Inneren des Gebäudes mehrere Rauchbomben gezündet, so dass die Einsatzkräfte kaum etwas sehen konnten, sagte ein Polizeisprecher. 16 Beamte erlitten schwere Rauchvergiftungen. Der Täter habe sich offensichtlich selbst gerichtet, sagte der Münsteraner Oberstaatsanwalt Wolfgang Schweer.
Bei dem Täter handelt es sich um einen ehemaligen Schüler, der im vorigen Jahr seinen Abschluss an der Geschwister-Scholl-Schule gemacht hat. Während seiner Schullaufbahn ist er drei Mal sitzengeblieben. Im Ort galt der 18-Jährige als unberechenbar. Er habe häufiger Drohungen ausgestoßen und Mädchen eingeschüchtert. "Ihr Modepüppchen seid als erstes dran", soll er nach Angaben von Eltern gesagt haben, deren Kinder er bedroht habe. Damals habe man die Äußerungen nicht ernst genommen. Vor dem Jugendgericht in Rheine war für morgen eine Hauptverhandlung angesetzt, in der sich der 18-Jährige wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz verantworten sollte.
Als wahrscheinliches Motiv nannte Oberstaatsanwalt Wolfgang Schweer "allgemeine Frustration und Sinnleere". Morgen hätte in Rheine ein Verfahren wegen unerlaubten Waffenbesitzes gegen den jungen Mann beginnen sollen, weil er mit einer scharfen Waffe erwischt worden war. Die Polizei hat das Gelände rund um das Einfamilienhaus, in dem die Eltern des mutmaßlichen Täters leben, abgesperrt. Laut Polizei hat der Vater des 18-Jährigen einen Zusammenbruch erlitten und liegt auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Auch die Mutter steht unter Schock und ist in ärztlicher Behandlung. Der Täter hat zwei Geschwister. Der Bruder des Täters geht nach Angaben von NRW-Schulministerin Barbara Sommer ebenfalls auf die Geschwister-Scholl-Schule, die Schwester besucht ein Gymnasium.
Ein Schüler, der den Täter kannte, berichtet, es sei ein Einzelgänger gewesen, der den ganzen Tag mit Computerspielen verbracht habe. Erste Informationen von SPIEGEL ONLINE, denen zufolge der Schüler seine ehemalige Schule vor Jahren bereits als Szenario für ein populäres Ballerspiel am Computer nachbaute, sind bislang nicht bestätigt.
Der Täter war Mitschülern zufolge zuletzt ein ziemlich guter Schüler, in Mathematik etwa habe er eine Eins gehabt. Nach der achten Klasse habe er sich immer mehr abgesondert, sei nicht mehr zu Partys gekommen und habe seine Mitschüler gemieden. Zu dieser Zeit begann er auch, sich nur noch schwarz zu kleiden und Death Metal zu hören. Gern erzählte er, dass er später zur Bundeswehr wolle, am liebsten zu einem Einsatz in ein Krisengebiet. Im Juni 2004 hatte er seinen Amoklauf angekündigt und in einem Internetforum psychologische Hilfe gesucht. "Für alle, die es noch nicht genau verstanden haben: Ja, es geht hier um Amoklauf", schrieb er. Ob er daraufhin Hilfe bekommen hat, ist unklar.
Elf Menschen verletzte der Täter, fünf davon wurden durch Schüsse verwundet. Der vermummte Täter drang gegen 9.30 Uhr in die Schule ein. Der Täter hat bereits vor dem Betreten der Schule um sich geschossen, berichten Schüler. Kurz darauf kam es zu einer Auseinandersetzung mit einer schwangeren Lehrerin, der der Maskierte nach Informationen von SPIEGEL ONLINE mit der Gaspistole ins Gesicht schoss. Dem Hausmeister der Schule, der ihr zur Hilfe eilen wollte, schoss der Mann mit der anderen Waffe in den Bauch. Das Opfer wurde in die Universitätsklinik in Münster eingeliefert und ist in einem kritischen Zustand. Zudem sind vier Schüler - drei Jungen und ein Mädchen - zwischen zwölf und 16 Jahren angeschossen worden. Sie trugen Schusswunden in Brust, Bauch, Arm, Knie und Hand davon. Vier Schüler, die sich vor dem Amokläufer versteckt hatten, konnten die Einsatzkräfte befreien.
Ein Schüler hatte die Beamten unmittelbar vor der Tat auf den 18-jährigen aufmerksam gemacht. Er hatte den Bewaffneten getroffen, als dieser auf dem Weg zur Schule war. Nach Aussagen des Zeugen hatte der Täter einen "verstörten Eindruck" gemacht, deswegen habe er sich nach dem Zusammentreffen an die Polizei gewandt. Diese konnte jedoch nicht mehr verhindern, dass der Amokläufer in das Schulhaus gelangte.
Aus dem Sekretariat der Schule wurde um 9.28 Uhr ein Notruf abgesetzt. Sechs Minuten später waren die Beamten vor Ort. Eine Spezialeinheit der Polizei versuchte zunächst, den maskierten Täter zur Ruhe zu bringen, war später dann aber in das Gebäude eingedrungen.
Nach der Tat hatte sich vor der Schule eine Gruppe von erschrockenen Eltern und Schülern versammelt. Viele davon waren in Tränen aufgelöst. Nach Angaben der Direktorin bleibt die Schule bis auf weiteres geschlossen. Freiwilliger Unterricht soll in einer anderen Schule angeboten werden. Schüler und Lehrer werden psychologisch betreut.
kai/ffr/dpa/AP/AFP/Reuters/ddp